randschau 1/98: Urlaub
(März 1998)
Magazinmeldungen:
"Unzumutbares Lallen, Schreien und Stöhnen"
Wie sicher inzwischen allgemein bekannt ist, dürfen sich laut einem Urteil des
Oberlandesgerichts Köln vom 13.11.97 (das Anfang Januar bekannt wurde) sogenannte
geistig behinderte Menschen einer Außenwohngruppe des Landschaftsverbands Rheinland
im Kreis Düren an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen nur noch bis 12.30 Uhr,
mittwochs und samstags bis 15.30 Uhr und an den übrigen Werktagen ab 18.30 Uhr
(!) in ihrem Garten unterhalten. Ein Musiklehrer aus der Nachbarschaft der Wohngruppe
klagte wegen der 'Lärmbelästigung', die von den Bewohnern ausging. Als Beweismittel
spielte er dem Gericht Tonbandaufnahmen vor. Laut Urteilsbegründung fielen sie
nicht unter das für Aufnahmen sprachlicher Art gültige Beweisverwertungsverbot,
da sie "ausschließlich nichtverbale Laute" enthalten, "die jedenfalls für Außenstehende
keinen Informationsgehalt haben und auch nicht mit einer bestimmten Person als
Urheber in Verbindung gebracht werden können" und deshalb angeblich die Heimbewohner
nicht in ihrem Selbstbestimmungsrecht verletzen.
Das Gericht gesteht dem Kläger zu, daß er "diese Lauteinwirkungen" nicht "in
der schrankenlosen Form, in der sie nach der Vorstellung des Beklagten auch
in Zukunft möglich sein sollen", dulden muß, da sie "die Nutzung seines Grundstücks
so sehr
beeinträchtigen, daß sie unzumutbar sind." Im Vordergrund dieser Beurteilung
steht dabei "weniger die Dauer und die Lautstärke als vielmehr die Art der Geräusche,
denen der Kläger ausgesetzt ist", da bei den Lauten, die die geistig schwerbehinderten
Heimbewohner "von sich geben", der "Lästigkeitsfaktor" "besonders hoch" sei.
Wie die Äußerungen der Heimbewohner von den sie betreuenden Aufsichtspersonen
empfunden werden, könne für die Beurteilung dieser "Lästigkeit" nicht maßgebend
sein, da die in den Außenwohngruppen tätigen Mitarbeiter des Beklagten aufgrund
ihrer Ausbildung über heilpädagogische und psychologische Kenntnisse verfügen,
die es ihnen jedenfalls in begrenztem Umfang ermöglichen, die Äußerungen der
Behinderten als Ausdruck bestimmter Gedanken und Empfindungen zu "verstehen".
In der Unverschämtheit dieses Urteils bzw. der Urteilsbegründung m. E. noch
eins draufgesattelt wird, in dem die Lage des Wohnhauses der Außenwohngruppe
in einem sog. Mischgebiet thematisiert wird. Hierzu heißt es im Urteil: "Die
Lage im Mischgebiet erhöht die Wesentlichkeitsgrenze für seine Bewohner insbesondere
im Hinblick auf Gewerbelärm. Mischgebiete dienen dem Wohnen und der Unterbringung
von Gewerbebetrieben, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Abgesehen davon,
daß es im Streitfall nicht um 'Gewerbelärm' geht, steht nach dem Beweisergebnis
fest, daß die Störungen, denen der Kläger bisher ausgesetzt war, über das hinausgehen,
was ihm auch unter Berücksichtigung des Mischgebietscharakters zumutbar ist."
M. E. ging es dem Kläger weniger um die Sache, als vielmehr um einen Vorwand,
gegen die Menschen mit geistiger Behinderung vorgehen zu können. Dies wird deutlich,
weil er sich auch durch angebliche "geschlechtsbezogenen Handlungen" der Heimbewohner
gestört fühlte, die aber im Verfahren keine Rolle spielten. Eine Sicht in
den Garten des Nachbargrundstücks, wo es dazu gekommen sein soll, ist jedoch
überhaupt nur von einem Fenster des Obergeschosses des Musikers aus möglich.
Als Kommentar zu diesem Urteil schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung
vom 10.1.98: "Bei lärmenden Rasenmähern sind Nachbarn und Gerichte großzügiger
als beim 'Lallen, unartikulierten Schreien und Stöhnen' von behinderten Menschen.
Menschen, die den Ansprüchen der Leistungsgesellschaft nicht genügen, werden
per Gericht von dem Terrain ferngehalten, auf dem Leistungsträger arbeiten,
leben und sich erholen. Solche Gedanken führen hin zu den Züchtungsphantasien
vom leid- und defektfreien Menschen." Dem ist nichts hinzuzufügen!
Bioethik-Konvention: Unterzeichnung durch
Proteste verzögert
Die Bundesregierung wollte die Unterzeichnung des "Menschenrechtsübereinkommens
zur Biomedizin" schnell über die Bühne bringen. Nachdem bereits Mitte letzten
Jahres Gespräche mit den Spitzenvertretern der Kirchen geführt wurde, um deren
Widerstand zu brechen, sah es so aus, als würde das Bundeskabinett letzten Oktober
eine Beschlußvorlage in den Bundestag einbringen. Dies hat zu einer neuen Welle
des Widerstands geführt: Durch einen von Ursel Fuchs (mit-)initiierten Appell
(siehe randschau 4/97) konnte die Thematik der Bioethik-Konvention erneut in
die Öffentlichkeit gebracht und breiter Widerstand dagegen erzeugt werden. Auch
auf politischer Ebene gab es eine neue Initiative: Ein Zusammenschluß von 57
Abgeordneten aus CDU, SPD und Bündnis 90/Grüne (eine abenteuerliche Mischung!)
brachte Mitte Dezember eine Kleine Anfrage ein, in der es um den Schutz einwilligungsunfähiger
Menschen bei Forschungsvorhaben geht einer der "Knackpunkte" des Europaratsübereinkommens.
In dem Text wird die Bundesregierung unter anderem gefragt:
1. Welche Kategorien zeitweiliger oder dauerhafter Einwilligungsunfähigkeit
sind nach Auffassung der Bundesregierung zu unterscheiden, und auf welche rechtlichen
Grundlagen oder ggf. höchstrichterlichen Entscheidungen stützt sich eine solche
Zuordnung?
2. Mit welchen Methoden, anhand welcher Kriterien und durch wen ist die Einwilligungsunfähigkeit
eines Menschen festzustellen? Wie ist das Vorliegen der Einwilligungsunfähigkeit
im zeitlichen Verlauf einer Behandlung oder eines Forschungseingriffs zu überprüfen?
3. Welche konkreten Kriterien und Maßstäbe sind nach Ansicht der Bundesregierung
bei der Genehmigung von Forschungen an Einwilligungsunfähigen zwingend zu beachten?
...
11. Wie will die Bundesregierung sicherstellen, daß keine europäischen oder
internationalen Forschungsvorhaben mit deutschen Mitteln durchgeführt werden,
wenn sie auf sogenannten "Mindeststandards" des "Menschenrechtsübereinkommens
zur Biomedizin" des Europarats basieren, die nicht deutschen Schutzbestimmungen
genügen?
...
13. Welche Forschungsziele müssen nach Auffassung der Bundesregierung gegeben
sein, um Forschungen, die keinen unmittelbaren Nutzen für die Betroffenen haben,
an Kindern zu begründen?
a) Wie konkret muß der erwartete wissenschaftliche Nutzen bei diesen Forschungsvorhaben
sein und wer überprüft ihn?
b) Welche absoluten Grenzen müssen bezüglich Belastung und Risiko für die Betroffenen
nach Ansicht der Bundesregierung festgelegt werden, und wie ist ihre Einhaltung
zu prüfen?
c) Wer ist befugt, eine rechtswirksame Einwilligung zu geben?
14. Welche Forschungsziele müssen nach Auffassung der Bundesregierung gegeben
sein, um Forschungen, die keinen unmittelbaren Nutzen für die Betroffenen haben,
an anderen einwilligungsunfähigen Menschen zu begründen?
a) Wie konkret muß der erwartete wissenschaftliche Nutzen bei diesen Forschungsvorhaben
sein und wer überprüft ihn?
b) Welche absoluten Grenzen müssen bezüglich Belastung und Risiko für die Betroffenen
nach Ansicht der Bundesregierung festgelegt werden, und wie ist ihre Einhaltung
zu prüfen?
c) Wer ist befugt, eine rechtswirksame Einwilligung zu geben?
...
16. Wer haftet für gesundheitliche Schädigungen oder andere nachteilige Folgen
für den
einwilligungsunfähigen Menschen, an dem geforscht wird?
17. Bei welchen Erkrankungen und Behinderungen sieht die Bundesregierung Handlungsbedarf,
Forschung ohne potentiellen Nutzen für die Betroffenen an einwilligungsunfähigen
Menschen zuzulassen?
...
Diese Anfrage, ein "Dialog zur 'Bioethik'" am 5. Februar 1998 in Bonn (alle
namhaften KritikerInnen wurden zu dieser Tagesveranstaltung geladen) und ein
Fachforum "Menschen mit Behinderungen in der biomedizinischen Forschung und
Praxis" am 17. und 18. Februar im Wissenschaftszentrum Bonn werden (hoffentlich!)
beitragen, daß eine öffentliche Diskussion über das Menschenrechtsübereinkommen
in Gang kommt, die eine Ratifizierung der Konvention durch Deutschland zumindest
noch hinauszögert.
In Zusammenhang mit der drohenden Unterzeichnung der Bioethik-Konvention durch
Deutschland ...
... sei auch auf eine Tagung mit dem Titel "Die Würde des Menschen ist unantastbar Gegen den Zugriff der Bioethik auf das Leben" hingewiesen, die vom 26.-28.
März 98 in der Stadthalle Kassel gemeinsam von den 4 Fachverbänden von Einrichtungsträgern
für Menschen mit geistiger Behinderung, dem Bundesverband Körper- und Mehrfachbehinderter
und der ISL e.V. durchgeführt wird. Die Tagungsgebühr beträgt je nach Einkommen
und Anmeldezeit zwischen 50 und 180 DM. Nähere Informationen: ISL e.V., Jordanstr.
5, 34117 Kassel, Tel. 0561/72885-46, Fax: 0561/72885-29.
BGH: Behindertes Kind als Grund für Schadensersatz
Eltern eines behinderten Kindes hatten sich in Tübingen genetisch beraten
lassen, um auszuschließen, daß ein zweites Kind wieder eine Behinderung haben
werde. Trotz der Aussage des Genetikers, daß dies äußerst unwahrscheinlich sei,
kam das zweite Kind mit der gleichen Behinderung zur Welt. Die Eltern klagten
wegen fehlerhafter Beratung und bekamen Schmerzensgeld und Unterhaltszahlungen
zugesprochen. Dieses Urteil wurde in mehreren Instanzen bestätigt. (In der Urteilsbegründung
des BGH hieß er gar, daß der Wunsch der Eltern eines behinderten Kindes, die
Zeugung eines weiteren Kindes vom Ergebnis einer genetischen Beratung abhängig
zu machen, keinen moralischen Bedenken begegne, sondern in hohem Maße von elterlicher
Verantwortung geprägt sei. Ein Schlag ins Gesicht für alle GegnerInnen der
genetischen Beratung und der Pränataldiagnostik!) Der Arzt reichte Verfassungsbeschwerde
ein und begründete diese unter anderem damit, daß die vom BGH (= Bundesgerichtshof)
vertretene Auffassung, wonach der Unterhaltsaufwand für ein unerwünschtes Kind
ein erstattungsfähiger Schaden sei, gegen die im Grundgesetz enthaltenen ethischen
Wertvorstellungen verstoße. Die Rechtsordnung erlaube es nicht, Schwangerschaft
und Geburt eines Kindes als Schaden in zivilrechtlichem Sinne zu bewerten. Das
Kind würde sonst zum bloßen Objekt eines rechtlichen Anspruchs herabgewürdigt.
In dem Beschluß vom 12.11.97 (die am 15.12.97 bekannt gemacht wurde) entschied
der Erste Senat des Bundesverfassungsgericht, daß die Geburt des behinderten
Kindes in diesem Fall sehr wohl ein Grund für Schmerzensgeld- und Unterhaltszahlungen
ist. Die Verfassungsrichter betonten, daß nicht das Kind der Schaden sei, sondern
die Belastung der Eltern mit dem Unterhalt. Damit sei nichts über die Würde
oder Wert bzw. Unwert des Kindes an sich ausgesagt, so daß eine Argumentation
mit Art. 1, Abs. 1 GG ("Die Würde des Menschen ist unantastbar. ...) hier fehl
am Platze sei.
Das Urteil, das leider viel zu wenig Protest auslöste, ist m. E. unter drei
Gesichtspunkten zu betrachten:
1. Der Arzt, der die Eltern genetisch beraten hat (egal was mensch davon hält),
machte offenbar einen Fehler. Ist das nicht vergleichbar mit einem Handwerker,
der bei seiner Arbeit pfuschte? Vermutlich wird jede/r zustimmen, daß dieser
Handwerker nachbessern soll oder kein Geld bekommt. Und wie soll der Arzt zur
Rechenschaft gezogen werden???
2. Das Urteil löste einen Streit zwischen Ersten und Zweitem Senat des Bundesverfassungsgerichts
aus. Der Zweite Senat vertritt nämlich mehrheitlich die Auffassung, die viele
der LeserInnen vermutlich teilen: Es sei von Verfassungs wegen nicht gestattet,
die Unterhaltspflicht für ein Kind als Schaden zu begreifen. Das Kind dürfe
auf diese Weise nicht zum Objekt gemacht werden. Vor der jetzigen Entscheidung
wollte der Zweite Senat das Plenum (= Vollversammlung aller RichterInnen des
BVG) einberufen, um zu einer einheitlichen Rechtsauffassung zu kommen. Der Erste
Senat hielt dies nicht für nötig und sperrte sich dagegen. Was steckt dahinter?
Mehr als nur Differenzen, wie durch ärztliches "Fehlverhalten" notwendig werdende
Unterhaltszahlungen genannt werden?
3. Der dritte und weitaus wesentlichste Aspekt des Urteils: Das Urteil legitimert
die Praxis der genetischen Beratung und im nächstem Schritt die Entwicklung
immer verfeinerterer pränataler Diagnosemethoden. Die Schwangerschaft wird noch
mehr zu einer "Krankheit" umdefiniert und die werdende Mutter zu allen möglichen
Untersuchungen bzw. im Falle von geringster Auffälligkeiten zur Abtreibung gedrängt aus Angst des Arztes/der Ärztin, im Falle einer Behinderung des Kindes zu
Unterhaltszahlungen herangezogen zu werden.
Oldenburg: Euthanasie praktisch
Was vermutlich nicht gerade selten passiert, wurde in Oldenburg wieder einmal
öffentlich:
Eine Frau, bei deren Fötus Trisomie 21 diagnostiziert wurde, bestand auf einer
Abtreibung, die nach der geänderten Gesetzeslage bis kurz vor der Geburt (!)
möglich ist, wenn eine entsprechende Indikation vorliegt.
Im bekanntgewordenen Fall überlebte der 25 Wochen alte Fötus die "Abtreibung"
und wurde lediglich in eine Decke gewickelt (wohl in der Hoffnung, daß das Neugeborene
stirbt Anm. M.S.) Erst zehn Stunden nach der Geburt wurde das Kind ärztlich
und pflegerisch versorgt; es lag schwerverletzt auf der Intensivstation.
Sowohl der CDU-Bundestagsabgeordnete und Abtreibungsgegner Hubert Hüppe erstattete
Anzeige (wegen "Spätabtreibung" und "Liegenlassen"), als auch die Eltern des
Kindes, weil sie nach ihrer Meinung nicht über das Risiko aufgeklärt worden
seien, daß der Embryo den Abbruch überstehen könnte.
Schätzungen von Fachleuten besagen, daß 30 Prozent der abgetriebenen
Föten nach der 20. Schwangerschaftswoche überleben, statistisch wären dies mindestens
60 weitere "Oldenburger Fälle". Ganz abgesehen davon, ob eine vorgeburtlich
festgestellte Behinderung eine Indikation für eine Abtreibung sein darf: Was
kann die Konsequenz sein? Sollen Abtreibungen nach der 20. Woche grundsätzlich
verboten werden? Bei diesem Thema wäre uns Unterstützung von der falschen
Seite sicher!
Nach der Aufregung um das Klonschaf "Dolly" hat sich die Parlamentarische Versammlung des Europarats im September 1997 für ein generelles Verbot von Menschen ausgesprochen. Das Zusatzprotokoll zum Menschenrechtsübereinkommen zur Bioethik, das dem Rechnung tragen soll, verbietet jedoch das Klonen nicht an sich, sondern nur, daß Embryonen, die zu Forschungszwecken geklont wurden, ausgetragen bzw. geboren werden.
Bioethik-Erklärung der UNESCO verabschiedet
Einen nicht so hohen Stellenwert wie das Papier des Europarats hat die "Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte", die am 11. November von der Unesco-Vollversammlung einstimmig beschlossen wurde sie hat keinen rechtlich bindenden Charakter. Laut einem Artikel in der taz wird in dem Text das Klonen von Menschen geächtet und jedem Menschen das Recht auf Respektierung seiner Würde und seiner Rechte ungeachtet seiner genetischen Merkmale zuerkannt. In Artikel 10 heißt es: "Keine Forschung, die das menschliche Erbgut betrifft, oder ihre Anwendung, insbesondere in den Feldern der Biologie, Genetik und Medizin, sollte Oberhand über die Respektierung der Menschenrechte, Grundfreiheiten und der menschlichen Würde des einzelnen gewinnen." Schön wär's!
Ende letzten Jahres fand in Aachen der sogenannte "Genrübenprozeß" statt,
bei dem sich acht Gentechnik-KritikerInnen wegen Hausfriedensbruch und Widerstand
gegen Polizeibeamte verantworten mußten.
Als Protest gegen die Aussat genmanipulierter Rüben durch die RWTH Aachen fanden
seit 19.3.95 regelmäßige Sonntagsspaziergänge statt, die von einem breiten Spektrum
ökologischer Gruppen sowie von Bündnis 90/DIE GRÜNEN und den ASten von TH und
FH Aachen getragen wurde.
Nachdem das Rübenfeld am 31.5.95 von Unbekannten abgeerntet wurde, nahm die
Polizei am darauffolgenden Sonntag TeilnehmerInnen der Protestveranstaltung,
die an jenem Tag unter dem Motto "vorgezogenes Erntedankfest" stand, nach einem
brutalen Polizeieinsatz fest. Der Vorwand hierfür war das angeblich widerrechtliche
Betreten einer Weide neben dem Versuchsgelände, die sich in Hochschulbesitz
befindet. Sechs der Festgenommene mußten stundenlang in Arrestzellen verbringen,
vier Personen mußten sich zum Arzt begeben. Die TH erstattete Anzeige gegen
Hausfriedensbruch, die Staatsanwaltschaft wirft den SpaziergängerInnen zusätzlich
Widerstand gegen die Staatsgewalt vor.
In der Anklageschrift, die acht der damals Betroffenen zwei Jahre (!) nach der
angeblichen "Tat" zugestellt wurde, werden die Sonntagsspaziergänge als "militante
Aktionen" charakterisiert. Der Protest gegen den Freilandversuch sei ungerechtfertigt,
da (wie sollte es anders sein, M.S.) "keinerlei Gefahren für die Bevölkerung
ausgehe".
Die Betroffenen sehen in dem Verfahren den "Beginn eines härteren Vorgehens
des Staates zur Durchsetzung von Freilandversuchen" und als Versuch, den legitimen
und öffentlichen Protest einzuschüchtern.
Die Gerichtsverhandlung im November 1997 geriet zu einer Blamage: Die geladenen
ZeugInnen widersprachen sich und der Staatsanwalt konnte nicht einmal einen
rechtmäßigen Strafantrag der RWTH Aachen präsentieren. Trotz mehrerer Anmahnungen
vom verhandelnden Richter war der Staatsanwalt jedoch erst nach drei Verhandlungstagen
bereit, das Verfahren einstellen zu lassen.
Bundesweiter Aktionstag: Mobilität für alle
"Trotz zum Teil langjähriger Bemühungen von Behinderteninitiativen und -verbänden
und des seit 1994 im Grundgesetz festgeschriebenen Benachteiligungsverbotes
für Behinderte sind viele Busse, Straßenbahnen, Taxen und Züge nach wie vor
für behinderte Menschen nicht zugänglich. Deshalb ruft die Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben (ISL) dazu auf, am Samstag, dem 21. März 1998 mit möglichst
vielen phantasievollen Aktionen die öffentlichen Verkehrsmittel und Sonderfahrdienste
öffentlichkeitswirksam zu testen und bestehende Mängel darzustellen sowie den
Rechtsanspruch auf eine gleichberechtigte Mobilität für behinderte Menschen
zu bekräftigen." (aus dem ISL-Aufruf)
Wie notwendig es ist, zu dem "Dauerbrenner" ÖPNV immer wieder mit Aktionen
zu thematisieren, zeigen "Erfahrungen", die z. B. Menschen im Rollstuhl am laufenden
Band beim Zugfahren machen: Von widerwilligen Hilfeleistungen über Gefährdungen
der behinderten Fahrgäste (da das Bahnpersonal oft zu faul ist, die Hubplattform
zu bedienen und RollstuhlbenutzerInnen "mal eben so" hebt) bis hin zu dem jüngst
vorgekommenen Ereignis, daß die Deutsche Bahn AG zwei Rollstuhlfahrern trotz
Vorabklärung den Ausstieg in Bad Oldesloe verweigern wollte.
Nähere Informationen: Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland ISL e. V., Jordanstr. 5, 34117 Kassel, Tel. 0561/72885-46, Fax: 0561/72885-29
Es ist bekannt, daß viele Computerspiele mit Brutalität nicht geizen. Besonders verwerflich ist es aber, wenn die im Spiel gejagten Personen nicht 'irgendwelche' Menschen bzw. Lebewesen sind, sondern diejenigen sind, die auch in der Realität Opfer von Diskriminierungen sind: In einem Spiel namens Carmageddon, das in Australien (!) trotz Protesten vertrieben werden darf, kommt es darauf an, möglichst viel Unheil im Straßenverkehr anzurichten und Personen zu überfahren. Extrapunkte bekommt, wer einen Blinden überfährt und im Rückwärtsgang noch einmal überrollt. ...
Am 5.12.97 hat die Bundesbauministerkonferenz beschlossen, eine Vorschrift
über barrierefreies Bauen in die Musterbauordnung aufzunehmen. Theoretisch könnte
demnach "behindertenfreundliches" Bauen bei Mehrfamilienhäusern zukünftig zur
Pflicht werden. Dies würde bedeuten, daß in Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen
mindestens ein Geschoß barrierefrei "errichtet" wird.
Im Einzelnen sind folgende Änderungen in der Bauordnung vorgesehen:
in Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen müssen die Wohnungen eines Geschosses
barrierefrei erreichbar sein
In diesen Wohnungen müssen die Wohn- und Schlafräume, eine Toilette, ein Bad
und die Küche und Kochnische mit dem Rollstuhl zugänglich sein. (Warum heißt
es nicht "alle Räume"? Anm. M.S.)
Bei schwierigen Gegebenheiten, bei denen sich die Anforderungen nur mit unverhältnismäßigem
Mehraufwand verwirklichen lassen, sind Abweichungen von dieser Verpflichtung
möglich.
Es bleibt zu hoffen, daß sich damit an der Knappheit von zugänglichen Wohnungen,
aber auch im Bewußtsein der Bauträger und Architekten, etwas ändern wird!
Benachteiligungsverbot für Menschen mit Behinderungen
jetzt auch in Bayern?
Bei den drei Volksentscheiden, die am 8. Februar 1998 in Bayern abgehalten
werden, steht unter anderem auch das Verfassungsreformgesetz zur Abstimmung.
Nachdem in einigen anderen Bundesländern bereits ein Diskriminierungsverbot
für Menschen in den Landesverfassungen zu finden ist, soll nach dem Willen der
Staatsregierung nun auch in die bayerische Verfassung ein Artikel 118a eingefügt
werden, der eine Benachteiligung behinderter Menschen verbietet und dem Staat
auferlegt, sich für gleichwertige Lebensbedingungen von Menschen mit und ohne
Behinderung einzusetzen. Konsequenterweise soll auch beim Artikel 125, Abs.
1 Satz 1 (bisher: "Gesunde Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes.") das
Wort "gesunde" gestrichen werden.
Mit den Änderungen, die im Falle einer Zustimmung durch das Volk am 1. März
in kraft treten, soll ein "Signal" gesetzt und ein zusätzlicher Anstoß für einen
Bewußtseinswandel in der Bevölkerung gegeben werden.
Bei einem anderen Volksentscheid ist geplant, "einen Vertreter der Behinderten"
in den bayerischen Senat mitaufzunehmen. (Der bayerische Senat ist eine an der
Gesetzgebung beteiligte Vertretung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller
Organisationen.)
Wille zur Veränderung oder Feigenblatt???
Noch mal Bayern: Behörden-Wegweiser für blinde und sehbehinderte Menschen
Seit Anfang Januar gibt es einen Wegweiser durch die bayerische Behördenlandschaft, der speziell für blinde und sehbehinderte Menschen konzipiert wurde und daher sowohl in Blindenschrift, Cassette oder Diskette als auch in Großdruck vorliegt. Erhältlich ist die Broschüre bei allen Landratsämtern, kreisfreien Städten, Bezirksregierungen und Polizeidienststellen oder übers Internet: http://www.bayern.de/service.
Bayern ausnahmsweise mal fortschrittlich???
Behindertengerechtes Tagungshaus in der Nähe von Frankfurt/M.
Orte, an denen Menschen mit Behinderungen zu einem günstigen Preis tagen können, sind rar. Deshalb wollen wir hier ein Angebot weitergeben, welches die randschau im Dezember erreichte: Die Bildungsstätte "Alte Schule" in Neu-Anspach (im Taunus) bietet Platz in zwei Stockwerken für 53 Personen, wobei aber nicht alle Betten für RollstuhlfahrerInnen benutzbar sind. Drei Gruppenräume sind vorhanden. Die Preise (Vollverpflegung mit Eigenleistung: DM 26.-- pro Tag, ohne Eigenleistung: auf Anfrage) sind sehr moderat. Aus dem Informationsfaltblatt ersichtliche Nachteile sind relativ große Schlafräume und die etwas umständliche Erreichbarkeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Nähere Informationen: Bildungsstätte Alte Schule Anspach e. V., Schulstr. 3, 61267 Neu-Anspach, Tel. 06081/41772, Fax: 06081/960083
REHADAT im Internet
Seit Oktober 1997 kann auf die recherchefähige Version der Datenbank REHADAT
über das world wide web zugegriffen werden. Damit stehen 60 000 Dokumente aus
den zehn Rehadat-Datenbanken im Internet zu Verfügung. Geplant sind sowohl Querverweise
aus den Dokumenten der einzelnen Datenbanken zu anderen Seiten im Internet,
die weiterführende Informationen enthalten, wie auch der Aufbau eines Netzes
von Adressen, die eine möglichst breite Palette von für behinderte Menschen
relevante Informationen abdecken. Nähere Informationen: REHADAT, Institut der
deutschen Wirtschaft, Gustav-Heinemann-Ufer 84-88, 50968 Köln, Tel. 0221/37655-13,
Fax: 0221/37655-55, Internet: http://www.rehadat.de
Außergewöhnlich Gehbehinderte sind von Autobahngebühr befreit
Apropos Reisen das Schwerpunktthema dieser Ausgabe: Behinderte Menschen mit dem Merkzeichen "aG" im Behindertenausweis sind in Österreich von der Autobahngebühr befreit. Zwar müssen sie zuerst die Vignette für die Straßenbenutzung bezahlen, bekommen das Geld aber erstattet, wenn sie die Quittung zusammen mit Kopien von Schwerbehindertenausweis und Führerschein an die Mautgesellschaft in Österreich schicken: ÖSAG, Alpenstr. 94, A-5020 Salzburg.
Die Initiative zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen e. V. hat zum 10. Mal die Psychiatriebetroffenen-Zeitschrift IRRTU(R)M zum Thema Beziehungen Beziehungslosigkeit herausgebracht. In dem 160seitigen Heft der Bremer Initiative schildern die über 20 AutorInnen aus der subjektiven Sichtweise ihre Probleme rund um das Thema "Beziehungen" in Artikeln, Kurzgeschichten, Illustrationen und zahlreichen Interviews. Die Zeitschrift ist für 4.-- DM plus Porto zu bestellen bei: IRRTU(R)M, Vegesacker Str. 174, 28219 Bremen, Tel. 0421/3964808, Fax: 0421/3963705.
Neue Filmreihe zum Thema Behinderte
"Aus anderer Sicht" heißt eine neue Sendereihe, die 3sat in Kooperation mit
der "Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien e.V." ab Februar 1998 jeden
ersten Donnerstag im Monat ab 16 Uhr ausstrahlt.
"Die unterschiedlich langen Filmbeiträge innerhalb des halbstündigen Programms
porträtieren Menschen, die teils sichtbar, teils unsichtbar von einer Behinderung
betroffen sind. Keine Sensationsbilder, die die Dargestellten zu einem 'Herkules
im Rollstuhl' oder zu einer 'Superfrau ohne Augenlicht' hochstilisieren, kein
mitleidiges Werben um Verständnis für eine hilflose Randgruppe unserer Gesellschaft.
Behinderte selbst wirken aktiv an der Gestaltung der Reihe mit." heißt es
da im Ankündigungstext.
Fragt sich natürlich, welche behinderte Menschen das sind, die bei der Mitgestaltung
der Sendung beteiligt sind ... Ist es möglich, eine Sendung mit einem Menschen
zu gestalten, ohne ihn damit automatisch zu etwas Besonderem zu machen? Interessant
ist auch, ob die Sendungen für Gehörlose untertitelt sind ... Nicht so interessant
die Titel der nächsten drei Sendungen:
Donnerstag, 2. April 98 16 Uhr: "Live is Life" / Bettina Mücke Logopädin
/ Film von Rolf Sterzinger
Donnerstag, 7. Mai 98 16 Uhr: "In meinem Inneren bin ich Tänzerin" / Patricia
Magana /
Film von Bernd Thomas
Donnerstag, 4 Juni 98 16 Uhr: "Mit Caruso auf die Beine" / Der Klavierbauer
Arno Meffert / Film von Thomas Körner
Treffen der Selbstbestimmt-Leben-Initiativen
Das diesjährige Treffen der Selbstbestimmt Leben Initiativen findet vom 29.-31. Mai 1998 in Wien statt. Die Tagung wird von bizeps in Wien organisiert. Nähere Informationen bei Martin Ladstätter c/o BIZEPS, A-1070 Wien, Tel. 0043/1/523 89 21, Fax: 0043/1/523 89 21 20 oder per e-mail: office@bizeps.or.at
Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis
Welche hätte das noch für möglich gehalten, nach über 20 Jahren(!) ist den 'beiträgen' eingefallen, daß auch Frauen mit Behinderung Frauen sein könnten.
Nach dem all die langen Jahre nahezu gar nix über Frauen mit Behinderung erschienen ist, z. B. in den Heften zu Rassismus, zu Politik, oder zu Auslese und Ausmerze, erreichte uns nun eine Anfrage für Artikel für das nächste Heft. Dieses soll den Schwerpunkt "Gesundheitsnormen und Heillsversprechen" haben. Daß das Thema Behinderung den beiträgefrauen nur in Bezug zu Medizin einfällt, ist schade, aber bezeichnend.
Eine ausführlichere Vorankündigung ist bei uns oder der unten-stehenden Adresse zu bekommen: beiträge zur feministischen theorie und praxis, Redaktion und Verlag, Niederichstr. 6, 50668 Köln, Fon: 0221/138490, Fax: 0221/1 39 01 94
Behindertenpolitik mit dem Einkaufskorb?
Ein neuer Einkaufsratgeber bewertet auch die Behindertenpolitik der Firmen. Der Unternehmenstester will es den Verbraucherlnnen erleichtern die Unternehmen danach, wie weit sie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden, auszuwählen. Neben den 'Behinderteninteressen' wurden auch Maßnahmen zur Frauenförderung und die Einstellung der Unternehmen zu Gentechnologie untersucht.
Als Maßstab für die 'Behinderteninteressen' wurde vor allem die reale Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderung in den Firmen herangezogen, des weiteren ob es eine Schwerbehindertenvertretung gibt und behindertengerechte bauliche Maßnahmen. Von den 50 untersuchten Unternehmen erfüllten nur 2 die gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquote von 6%. Ein weiteres entscheidendes Kriterium, das positiv bewertet wurde, ist aber die Vergabe von Aufträgen an Behinderten-werkstätten. Da dort Menschen mit Behinderungen für ein Taschengeld ausgebeutet werden, kann ich (Heike Lennartz)die positive Bewertung nicht nachvollziehen.
Der Tester ist aber dennoch, insgesamt eine sehr aufschlußreiche Untersuchung.
Der Unternehmenstester Kosmetik, Körperpflege und Waschmittel ist bei Rowohlt
aktuell erschienen
© Martin Seidler
Letzte Aktualisierung: 15.05.2003