randschau 3/98: Rassismus/Biologismus
(September 1998)
Magazinmeldungen:
Einführung der Sterbehilfe durch die Hintertür
Ende Juli hat das Oberlandesgericht Frankfurt eine Entscheidung mit dem Aktenzeichen
20 W 224/98 getroffen, deren Konsequenzen noch nicht absehbar sind.
Unter Berufung auf dem Paragraphen 1904 des Bürgerlichen Gesetzbuches, der vorsieht,
daß "die Einwilligung des Betreuers in eine Untersuchung des Gesundheitszustandes,
eine Heilbehandlung oder einen ärztlichen Eingriff ... der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts
[bedarf], wenn die begründete Gefahr besteht, daß der Betreute auf Grund der
Maßnahme stirbt oder einen schweren gesundheitlichen Schaden erleidet"
eine Bestimmung, die also eindeutig auf die Lebenserhaltung bzw. die Verbesserung
des Gesundheitszustandes der betroffenen Person abzielt haben die Richter
nun exakt das Gegenteil entschieden. Sie leiteten daraus ab, daß das Vormundschaftsgericht
auf Betreiben des Betreuers auch einer lebensbeendenden Maßnahme etwa
den Abbruch der künstlichen Ernährung zustimmen kann; eine "kreative Interpretation
deutscher Gesetze" nennt dies Klaus-Peter Görlitzer in der taz vom 23.7.98.
Begründet wird diese paradoxe Auslegung mit einer behaupteten "planwidrigen
Unvollständigkeit" des Gesetzes, einer Lücke, die zu schließen sei. Scheinbar
logisch wird argumentiert, wenn das Gericht die Amputation von Gliedmaßen genehmigen
darf, dann dürfe es auch die Amputation des Lebens genehmigen. Der Behandlungsabbruch,
so argumentieren die Richter, sei mit einer Risikooperation durchaus vergleichbar.
Da der Gesetzgeber zwar jüngst das Betreuungsrecht geändert, aber zu dieser
Frage kein Wort gesagt hat, schlüpften die Richter hier kurzerhand in die Rolle
des Ersatz-Gesetzgebers und schufen mit ihrer (Präzidenz-)Entscheidung Tatsachen,
in dem sie sich im Wege der Analogie die Zuständigkeit geben, den Tod einer
Koma-Patientin zu genehmigen.
Bekanntlich wird bei der Frage der Sterbehilfe meistens mit dem Interesse der
betroffenen Person argumentiert, für die das (Weiter-)Leben an "Maschinen" eine
Qual darstelle, welche beendet werden müsse. Bewußt ausgespart wird, daß "es
... oft auch um die Reduzierung der Kosten [geht], es geht um Organe und um
eine Gesellschaft im Jugendrausch, die Krankheit und Sterben nicht ertragen
und deshalb abschieben und beenden möchte", wie Michael Emmrich es treffend
in der Frankfurter Rundschau vom 23.7.98 formuliert. Daher muß unbedingt rechtzeitig
und eindringlich auf mögliche Folgen des Urteiles hingewiesen werden:
(Quellen: FR, 23.7.98; taz, 23.7.98; SZ, 24.7.98 [teilweise wörtliche Übernahme
von Textpassagen])
Rückführung in den sicheren Tod?
Mensch mit spinaler Muskelatrophie soll(te) abgeschoben werden
Mitte Juli 1998 schlug die "Interessengemeinschaft behinderter und nichtbehinderter
Studierender an Bochumer Hochschulen" (IbS Bochum) Alarm: Der 27jährige behinderte
Kriegsflüchtling Mevludin Suljic soll in den nächsten Tagen nach Bosnien-Herzegowina
abgeschoben werden, da seine Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist. Für den jungen
Mann, der seit vier Jahren in Bochum lebt, ist aufgrund seiner Behinderung ständige
medizinische Betreuung überlebenswichtig. Wegen einer schweren Form der spinalen
Muskelatrophie ist er seit seinem 10. Lebensjahr ständig auf die Nutzung eines
Elektrorollstuhls sowie auf persönliche Assistenz angewiesen. Seine Eltern können
wegen ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung
die notwendige Pflege und Unterstützung nicht mehr leisten.
Mevludin Suljic hat einen Platz im Studienkolleg und ein behindertengerechtes
Zimmer für das kommende Wintersemester in Münster, ein Stipendium ist beantragt.
Die IbS Bochum hat die Härtefallkommission des Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen
aufgefordert, sich dafür einzusetzen, daß Mevludin Suljic in Deutschland bleiben
kann, denn mit einer Abschiebung in das ehemalige Jugoslawien wäre sein Leben
existentiell bedroht, da dort die nötige medizinische Spezialversorgung nicht
gewährleistet ist. Außerdem wäre die notwendige technische Wartung und Ersatzteilversorgung
für medizinische Hilfsmittel (z.B. Elektrorollstuhl) äußerst schwierig.
Trotz der Bitte der Härtefallkommission, keine "aufenthaltsbeendenden Maßnahmen"
durchzuführen, bis sie über den Fall beraten hat, händigte die Ausländerbehörde
der Stadt Bochum dem jungen Mann am Freitag den 31.07. eine Grenzübertrittsbescheinigung
aus, mit der er aufgefordert Deutschland bis zum 14.08. verlassen zu haben.
Die behinderten Studierenden haben eine Unterschriftensammlung initiiert und
riefen zu Solidaritätsaktionen für ein Bleiberecht für Mevludin Suljic auf (Download:
www.cebeef.com). Sie haben sich inzwischen zusätzlich an den Petitionsausschuß
des Landtages NRW gewandt und wollten die Unterschriften im Laufe des Monats
August dort vorlegen.
Kontakt: Interessengemeinschaft behinderter und nichtbehinderter Studierender
an
Bochumer Hochschulen (IbS Bochum), Ruhr-Universität Bochum, Studierendenhaus
037,
Universitätsstrasse 150, 44801 Bochum, Tel: 0234 / 7 00 23 93, Fax: 0234/
70 94- 4 60, e-mail: ibs-kontakt@ruhr-uni-bochum.de
"Schwangerschaft ohne Selektion" (S. o. S.)
Die diversen inzwischen fast schon routinemäßig angewandten Untersuchungsmethoden
der pränatalen Diagnostik bedeuten in ihrer Konsequenz Selektion: Ein Befund,
der auf eine Krankheit oder Behinderung hindeutet, führt in 99% aller Fälle
zu einem Schwangerschaftsabbruch, da das Kind so (d. h. mit einer sog. Normabweichung)
nicht erwünscht ist.
Ausgehend von dieser Realität hat Autonom Leben e. V. (AL) in Hamburg damit
begonnen, eine Informations- und Unterstützungsstelle für Frauen und Männer
aufzubauen, welche die "Qualitätskontrolle" durch pränataldiagnostische Untersuchungen
ablehnen. (Es ist den InitiatorInnen wichtig klarzustellen, daß ein Schwangerschaftsabbruch
keineswegs generell abgelehnt wird: Frauen sollen entscheiden können, ob sie
ein Kind wollen oder nicht; diese Entscheidung soll jedoch nicht aufgrund bestimmter
Eigenschaften des erwarteten Kindes getroffen werden.)
In der geplanten Einrichtung, die "Schwangerschaft ohne Selektion" genannt wurde,
soll eindeutig über die gesellschaftlichen Gefahren der pränatalen Diagnostik
und deren Folgen informiert sowie eine klare Stellung dagegen bezogen werden;
auch Unterstützung bei der Realisierung dieser Position im Alltag soll ein Hilfsangebot
sein. Dies ist ein in Deutschland bislang einmaliger Ansatz, den es unbedingt
zu unterstützen gilt!
Da die Finanzierung des Projekts noch unklar ist, wurde zunächst damit begonnen,
entsprechendes Info-Material zu erstellen.
Kontakt: "Schwangerschaft ohne Selektion", c/o Autonom Leben e. V., Langenfelder
Str. 35, 22769 Hamburg, Tel. 040/43290149, Fax: 040/43290147.
(Demnächst ist auch eine Hörcassette eines Mitschnittes zu S. o. S. von Radio
St. Paula bei genannter Adresse zu beziehen. Bei Interesse bitte einen adressierten
und ggf. frankierten Umschlag und eine C 90-Cassette zusenden!)
Pflegeversicherung: Umverteilung der Kosten auf dem Rücken
von Menschen mit Behinderungen
Mensch kann gar nicht oft genug über die katastrophalen Auswirkungen der Pflegeversicherung
auf Menschen mit Behinderungen schreiben.
In Niedersachsen wurde jetzt ein Schreiben von Herrn Ramms aus dem dortigen
Sozialministerium bekannt, das besagt, daß Menschen in Pflegestufe III künftig
nicht mehr in Eingliederungs-, sondern in reine Pflegeeinrichtungen verwiesen
werden.
In einem Schreiben von Elke Bartz, Vorsitzende des Forums selbstbestimmter Assistenz
behinderter Menschen, an Karl Finke, Behindertenbeauftragter von Niedersachsen,
führt sie die Konsequenzen dieser Entscheidung aus: "Das Schreiben verdeutlicht,
daß Menschen gegen ihren Willen, ausschließlich aus Kostengründen, von einer
Anstalt in die nächste manövriert werden sollen. Das erinnert stark an einen
Güterbahnhof, auf dem die Container platzsparend weil kostengünstig
gelagert werden müssen. Doch hier handelt es sich nicht um Waren, sondern um
Menschen. Diese Befürchtungen (als Menschen mit Behinderungen mehr und mehr
aus der Gesellschaft ausgesondert und in Anstalten abgeschoben zu werden), scheinen
sich zu bewahrheiten. Das grundgesetzlich verankerte Benachteiligungsverbot
und das Recht auf Freizügigkeit wird so auf übelste Weise ad absurdum geführt."
Kontakt: Forum selbstbestimmte Assistenz Behinderter, c/o Elke Bartz, Nelkenweg
5, 74673 Mulfingen, Tel. 07938/515, Fax: 07938/8538, e-mail: g.bartz@LINK-CR.bawue.cl.sub.de
Erstmals gab es Konsens der Parteien in einem Ausschuß des Deutschen Bundestages
zum Thema "Gebärdensprache": Im Ausschuß für Arbeit und Soziales wurde am 5.
Mai(!) 1998 beschlossen, daß es sich "bei der Schriftsprache, Lautsprache, lautsprachbegleitende
Gebärden und der Gebärdensprache um gleichberechtigte Kommunikationsformen handelt."
Nun müssen daraus auch die Konsequenzen gezogen und der Beschluß über ein Gesetz
verbindlich und "wasserdicht" gemacht werden.
Näheres im Internet unter der Adresse http://selbsthilfe.seiten.de/bv/nw3 in
der Rubrik
"Aktuelle Gleichstellungs-Infos"
Kölner Zentrum für selbstbestimmtes Leben ist umgezogen
Das ZsL Köln bittet uns darum, seine neue Adresse weiterzugeben: An der Bottmühle 2-15, 50678 Köln. Die Telefonnummer (0221/32 22 90) und die Faxnummer (0221/32 14 69) bleiben unverändert gültig.
Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen in Mainz hat sich vergrößert
Einen erfreulichen MitarbeiterInnenzuwachs hat das ZsL Mainz zu vermelden: statt früher fünf arbeiten nun 11 Personen in vier Projekten und in teilweise neuen Räumen. Bei den Arbeitsbereichen handelt es sich um
Nähere Informationen
- zu den ersten beiden Projekten: Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter
Menschen Mainz e. V., Rheinstraße 4F, Fort-Malakoff-Park, 55116 Mainz, Tel.
06131/146743, Fax: 06131/1467444, e-mail: zsl@mainz-online.de
- zu "KOBRA" und "UWO": ZsL Mainz, Am Zollhafen 8, 55118 Mainz, Tel. 06131/618671,
Fax: 06131/618672.
Archiv für Sozialgeschichte der Behindertenbewegung
sucht alte und neue Materialien
Christian Bönschen bittet uns, noch einmal auf sein Archiv hinzuweisen, das
in der Geschichtswerkstatt Dortmund neue Räumlichkeiten bekommen hat und die
Archivarbeit ausbauen will. Das Ziel der Arbeit ist es, Geschichte aus einem
anderen Blickwinkel betrachten zu können: die Lebenszusammenhänge der sogenannten
"kleinen Leute", also der Frauen und Männer in ihrem Alltag, in ihren familiären,
gesellschaftlichen und beruflichen Beziehungen zu dokumentieren und einer interessierten
Öffentlichkeit zugänglich zu machen. (Mittlerweile arbeitet das Archiv mit verschiedenen
Schulen, Universitäten und Dokumentationszentren zusammen.)
Zur Erweiterung des Bestands bittet er um die Zusendung alter und neuer Verbands-
und Vereinsrundschreiben, Bücher und Broschüren, Informationsblätter, Diplomarbeiten,
Fotos, Privatnachlässe, Erfahrungsberichte, Plakate, etc.
Die Adresse: Archiv für Sozialgeschichte der Behindertenbewegung, c/o Christian
Bönschen, Wellinghofer Str. 44, 44263 Dortmund (Hörde), Tel. 0231/412242, Fax:
0231/417312
Kasseler Bürgerpreis wird an Apartheitsbefürworter und Euthanasieanhänger verliehen
Eigentlich wäre der Kasseler Bürgerpreis "Glas der Vernunft", mit dem sich
die Stadt alljährlich eine positive Erwähnung in der überregionalen Presse sichern
will, nicht erwähnenswert, doch dieses Jahr wurde der Südafrikaner Christaan
Barnard als Preisträger nominiert. Er wird diesen trotz heftiger Proteste seitens
der Antifa und der Behindertenbewegung am 4. Oktober 1998 in Empfang nehmen.
Die Proteste gegen Barnard er bewies 1967 die Machbarkeit des Organtransfers,
indem er zum ersten Mal eine Herztransplantation durchführte, und machte damit
einen neuen Zweig der Hightech-Medizin marktfähig entzünden sich an eindeutig
befürwortenden Aussagen zum damaligen Apartheitsregime und zu Euthanasie. So
sagte er beispielsweise in einem Interview mit der burischen Sonntagszeitung
"Rapport" zum Umgang mit dem politischen Gegner: "Südafrika muß zweifellos seine
Feinde ermorden. ... Ich selbst habe Mitgliedern der Regierung die Namen von
ein paar Leuten gegeben, die meiner Meinung nach eliminiert werden sollten."
(Rapport, 5.8.79, zitiert nach epd, 7.8.79). Zum Thema "Euthanasie" heißt es
in seinem Buch "Glückliches Leben Würdiger Tod" (Hestia Verlag 1981):
"Es geht ... in erster Linie nicht um die Diagnose des Todes, sondern um die
Entscheidung, was man einem Menschen noch als 'Leben' zumuten darf und was nicht."
An anderer Stelle dieses Buchs beschwert er sich über die seiner Meinung nach
falsche Selektion des potentiellen Kanonenfutters im Krieg: nicht "Alte, Kranke
und Asoziale" ständen in vorderster Front, sondern die "Jungen und Gesunden".
Nebenbei bemerkt: In den 80ern enthüllte Barnard, daß die Herztransplantation
hätte früher vorgenommen werden können, wäre das Spenderherz nicht "schwarz"
gewesen (taz, 17.6.91). ...
Für eine Protestkampagne ist es jetzt zu spät; dennoch hier die Geschäftsstellenadresse:
Glas der Vernunft, c/o Kasseler Sparkasse, z. Hd. Frau Homburg, Wolfsschlucht
9, 34117 Kassel, Tel. 0561/7124-221, Fax: 0561/7124-627.
(Quelle: Brüche, Linke Zeitung aus Kassel, Nr. 48/April 1998)
Aufgeschoben, aber nicht aufgehoben:
Die Ratifizierung des umstrittenen Menschenrechtsübereinkommen des Europarats
zur Biomedizin ist erst einmal, d. h. für diese Legislaturperiode, vom Tisch.
Wie die randschau berichtete, haben sich im Bundestag zwei fraktionsübergreifende
Gruppen gegen bzw. für die Unterzeichnung gebildet, die zahlenmäßig nicht genau
definierbar waren. Deshalb erschien der Bundesregierung eine Abstimmung zu riskant.
In der nächsten Legislaturperiode müssen Anträge für bzw. gegen eine Unterzeichnung
der Bioethik-Konvention neu eingebracht werden.
Broschüre: "Die Bioethik-Konvention: Ein Angriff auf die menschliche Würde
Unter diesem Titel hat der Behindertenbeauftragte des Landes Niedersachsen
eine kostenlose Materialiensammlung zur Bioethik-Konvention herausgegeben. Neben
der Übersetzung des Menschenrechtsübereinkommens vom Bundesjustizministerium
(die allerdings beschönigende Übersetzungsfehler enthalten soll M. S.)
ist in dem Heft enthalten der Beschluß des Vorstandes der Lebenshilfe zur Konvention,
eine Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages,
welche das Menschenrechtsübereinkommen mit deutschem Recht vergleicht, der Nürnberger
Kodex 1997 und viele andere Texte. Ebenfalls findet mensch eine Adressenliste
von ReferentInnen zum Thema Bioethik (die m. E. etwas willkürlich zusammengestellt
ist M. S.).
Das 71seitige Heft ist zu beziehen beim Behindertenbeauftragten des Landes Niedersachsen
Karl Finke, Postfach 141, 30001 Hannover, Tel. 0511/120-4032, Fax: 0511/120-4297.
Bioethik, Transplantationsmedizin, "Sterbehilfe", Gesundheitsökonomie
mit solchen Themen setzen sich die Kölner Anti-Euthanasie-Gruppe und das Referat
für Biopolitik im Allgemeinen Studentenausschuß (AStA) der Kölner Universität
auseinander. Ein gedrucktes Ergebnis liegt jetzt vor: die Broschüre "Bioethik
Lizenz zum Töten?". Sie zeichnet die Debatte über bioethische Thesen und
"Tournee" des australischen "Euthanasiephilosophen" Peter Singer nach. Außerdem
thematisiert sie die geplanten Sterbehilferichtlinien der Bundesärztekammer.
Wie die randschau berichtete, war Singer im Frühjahr 1996 zu einem Symposium
nach Heidelberg eingeladen und aufgrund zahlreicher Proteste wieder
ausgeladen worden. Andernorts durfte er öffentlich reden, wie z. B. im Bonner
Presseclub. Dort hatte der Widerstand gegen seinen Auftritt ein juristisches
Nachspiel: 35 DemonstrantInnen mußten zusammen insgesamt ca. 10 000 DM an die
Staatskasse bzw. an gemeinnützige Vereine zahlen, weil ihr lautstarker Protest
gegen Singer und seine Propaganda vom Amtsgericht Bonn als Hausfriedensbruch
gewertet wurde.
Die 64seitige Broschüre ist für DM 6.-- incl. Versand zu beziehen beim AStA
der Universität Köln, Biopolitik-Referat, Universitätsstr. 16, 50937 Köln, Tel.
0221/470-2613.
Wie der randschau leider erst jetzt bekannt wurde, fand im Wintersemester
1997/98 ein Proseminar mit dem Titel "Peter Singer sein Standpunkt und
dessen Rezeption in Deutschland" von Dr. Wolfgang Buschlinger am Seminar für
Philosopie der TU Braunschweig statt. Zum Glück löste die Veranstaltung Proteste
aus: So wurde ein "Braunschweiger Appell wider tödliche Philosophie" initiiert,
der dem Rektor der Hochschule, Prof. Dr. Bernd Rebe, am 16. März 1998 mit insgesamt
rund 2000 Unterschriften aus verschiedenen Gruppen (Lebenshilfe, Evangelische
Stiftung Neueckerode, AStA der TU, ...) übergeben wurde.
Seminare zum Thema Lebensrecht/Lebenswert sind leider keine Seltenheit mehr.
Außergewöhnlich ist in diesem Falle, daß Rebe, der bis zu jenem Tag die Durchführung
des umstrittenen Seminars gerechtfertigt hatte, ein Versäumnis einräumte. Er
mußte eingestehen, daß er nie mit seinem Kollegen über die Lehrveranstaltung
gesprochen hatte, und zeigte sich entsetzt über Buschlingers Ansichten, der
genauso wie Singer die Meinung vertritt, das Leben sei nicht um
jeden Preis schützenswert.
Deutscher Bauchredner Singers gibt auf
Nach einer Protestaktion des AStA der Uni Mainz im letzten Jahr gegen ihn bat der Rechtsphilosoph Norbert Hoerster um die Versetzung in den Ruhestand. Der Professor, welcher z. B. wie Singer zwischen Menschen und Personen unterscheidet, freimütig von "lebensunwertem Leben" spricht, und Mitglied der DGHS ("Deutsche Gesellschaft für humanes Sterben") ist, zu dessen "wissenschaftlichen" Auswürfen es gehört, das Lebensrecht behinderter Menschen zur Disposition zu stellen, begründete dies offiziell mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand.
Anfang Juni ist die zweite (reguläre) Ausgabe der sehr lesenswerten Zeitschrift
"BioSkop" erschienen. Die Artikel thematisieren die derzeit in fünf Städten
laufenden Ausstellungen "Genwelten", die in manchen Krankenhäusern bereits eingeführten
"Score-Systeme", mit Hilfe derer die Entscheidung über die Weiterbehandlung
schwerkranker PatientInnen an einen Computer überantwortet werden soll, das
HUGO-Projekt (= Projekt zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms), "Euthanasie"-Entwicklungen
in den Niederlanden u. v. a.
Bestellungen an: BioSkop e. V Forum zur Beobachtung der Biowissenschaften
und ihrer Technologien, Grendplatz 4, 45276 Essen, Tel. 0201/512647, Fax: 0201/519792
Krankenkasse muß Stromkosten für E-Rollstuhl
zahlen
Für viele unserer LeserInnen interessant ist vermutlich das Urteil des Bundessozialgerichts
vom 06.02.97 (Az. 3 RK 12/96), das entschieden hat, daß die Krankenkasse nicht
nur die Anschaffungskosten, sondern auch die Unterhaltskosten für einen E-Rollstuhl,
also auch die Stromkosten zum Aufladen der Akkus, zahlen muß. Ist kein separater
Stromzähler vorhanden, so soll eine Pauschale gezahlt werden.
In der Praxis aber lehnen die Krankenkassen jedoch die Übernahme der Kosten
ab; sie vertreten die Meinung, es hätte sich um eine beim o. g. Urteil um eine
Einzelfallentscheidung gehandelt. Jedoch könnte es sich lohnen, selber einen
Prozeß zu führen ...
Im Magazinteil wurde schon mehrmals auf Stadtführer für behinderte Menschen hingewiesen; nun gibt es auch einen Stadtführer für gehbehinderte und rollstuhlbenutzende Menschen von Kornwestheim bei Stuttgart. Die Initiative für das 64seitige Werk ging von der Sozial-AG Klasse 7c des dortigen Ernst-Sigle-Gymnasiums aus ( was ich nicht so ganz unproblematisch finde, u. a. weil keine Betroffenen mit einbezogen waren [Anm. M.S.]). Der Führer er umfaßt die Bereiche Bildung, Freizeit, Kultur, Behörden, Handel, Dienstleistungen, Gastronomie und Verkehr kostet 10.-- DM und ist zu beziehen bei der Sozial-AG des Ernst-Sigle-Gymnasiums, z. Hd. Herrn Axel Schütz, Hohenstaufenallee 8, 70806 Kornwestheim.
Materialie der BAG Behindertenpolitik bei Bündnis 90/DIE GRÜNEN
Schon seit langem geistert die Hoffnung auf ein SGB IX (= Sozialgesetzbuch) umher, in dem ein wesentlicher Teil der Gesetze, die Menschen mit Behinderungen betreffen, zusammengefaßt werden sollen: das Schwerbehindertenrecht (bisher im Schwerbehindertengesetz) und das Rehabilitationsrecht (bisher in verschiedenen Büchern des SGB und im BSHG sowie im Rehabilitationsangleichungsgesetz verteilt). Die Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik hat jetzt ein Positionspapier für ein solches SGB als Leistungsgesetz erarbeitet, das angefordert werden kann bei: Andreas Jürgens, Karl-Kaltwasser-Str. 27, 34121 Kassel, Tel. 0561/9324985, Fax: 0561/9324984, e-mail: Andreas_Juergens@t-online.de
Wohnprojekt "Stadt und Frau" in Freiburg
In Freiburg entsteht in Genossenschaftsform ein Wohnprojekt mit über 100 Wohneinheiten. Davon sind einige behindertengerecht gestaltet, weitere werden folgen. Für diese werden zur Zeit Interessentinnen gesucht. Wer Lust auf gemeinschaftliches Wohnen hat, kann nähere Informationen erfragen bei Stadt & Frau, Wohnungsgenossenschaft e. G., Adelheid-Steinmann-Str. 4, 79111 Freiburg, Tel. 0761/4765450 bzw. Fax 0761/4765451
Kölner Urteil: Gutachterliche Stellungnahme
Im sog. Kölner Urteil (s. randschau 1/98) wurden die vorgeblich störenden
"Geräusche" vom Kläger aufgenommen. Diese Aufzeichnungen fielen nicht unter
das Beweisverwertungsverbot, da es sich nach Ansicht der Richter des OLG
um Äußerungen nichtsprachlicher Art handele, die nicht reproduzierbar
und nicht einer bestimmten Person zuzuordnen sind (Umkehrschluß dessen, was
unter das Beweisverwertungsverbot fällt Anm. M. S.). Daß diese "Geräusche"
sehr wohl als Teil einer (bewußten) Kommunikation der Bewohner einzustufen sind,
die reproduzierbar ist, geht aus einer lesenswerten gutachterlichen Stellungnahme
hervor, die von Prof. Dr. Barbara Fornefeld vom Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik
der Universität zu Köln (Klosterstr. 79b, 50931 Köln, Tel. 0221/470-5550, Fax:
0221/470-5580) erstellt wurde.
Verfassungsbeschwerde gegen Kölner
Urteil
Eingelegt hatten die Beschwerde sowohl der Landesverband als Träger des Wohnheims,
der Beklagter in dem Verfahren vor dem Kölner Oberlandesgericht (OLG) war, als
auch die Männer, die sich nach der Entscheidung des OLG nur noch zu bestimmten
Zeiten im Garten des Wohnheims unterhalten dürfen.
Der Landesverband begründete seine Verfassungsbeschwerde damit, daß das Urteil
des OLG nicht ordnungsgemäß zustande gekommen sei, weil in dem Verfahren nicht
berücksichtigt worden war, daß er beantragt hatte, die Wesentlichkeit der Lärmeinwirkung
auf das Grundstück des Nachbarn auf eine andere Art festzustellen, als durch
die (rechtlich bedenklichen) Tonbandaufnahmen. Jedoch konnte der Landesverband
die Behauptung, daß er tatsächlich einen solchen Antrag gestellt hat, nicht
beweisen, woran seine Verfassungsbeschwerde scheiterte. Die Männer brachten
vor, das Urteil des OLG verletze ihre Menschenwürde und ihre Rechte auf Freiheit
und freie Enfaltung ihrer Persönlichkeit. Außerdem verstoße das Urteil des OLG
gegen Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, weil sie aufgrund ihrer Behinderung unzulässig
benachteiligt würden.
Hierauf entgegnete das BVerfG, daß sie sich bereits an dem Verfahren vor dem
OLG Köln hätten beteiligen können und müssen, und zunächst auf diese Art hätten
versuchen müssen, Einfluß auf die Entscheidung zu nehmen, um ein derartiges
Urteil zu verhindern. Weil aber diese Möglichkeit der Einflußnahme versäumt
worden war, könne jetzt auch keine Beschwerde vor dem BVerfG gegen das Urteil
eingelegt werden.
Fazit: Rein formal ist das Urteil des BVerfG in Ordnung. Es setzt jedoch voraus,
daß die betroffenen Männer die ungeheuerliche Entscheidung des OLG hätten voraussehen
und sich in weiser Voraussicht den Weg zum BVerfG hätten offenhalten müssen.
Behindertenfeindlicher Werbespot
In einem Werbespot, mit dem die Brauerei Veltins für ihr neues Produkt warb,
versucht ein verliebter und unsicherer junger Mann seiner Angebeteten ein Liebesgedicht
vorzutragen und stottert dabei. Die "Pointe": "Liebe (...), wenn Du etwas Besseres
willst, kaufe Dir ein Veltins-Pils."
Nach Protesten der Kölner Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe, die der Brauerei
zu verstehen gaben, daß "es ... empörend und deprimierend [ist] zu sehen, daß
in unserer Gesellschaft immer noch Behinderte zu Spottobjekten der Werbung gemacht
werden" und den Spot als geschmacklos und diskriminierend brandmarkte, wurde
der Hörfunkspot zurückgezogen, obwohl die Pressesprecherin der Brauerei Gröber
betonte, daß das Unternehmen sich keiner Schuld bewußt sei; eine Diskriminierung
der bundesweit 800.000 Stotterer habe Veltins nie im Sinn gehabt.
Assistenzförderung vor dem Aus!?
Seit April ist ein Urteil des Frankfurter Verwaltungsgerichtes rechtskräftig
geworden. Danach ist bei der Integration von Schwerbehinderten ins Erwerbsleben
nur noch ein Reha-Träger zuständig. Das hat zur Folge, daß die Kosten für die
Assistenz nicht übernommen werden.
Die Gewährung der Assistenzkosten muß immer wieder neu erstritten werden, was
häufig lange dauert. Oft muß dann das Geld für die Assistenz vorgestreckt werden.
Auf einer Tagung des Deutschen Vereins Blinder und Sehbehinderter in Studium
und Beruf (DVBS) wurde eine Resolution erarbeitet. In dieser wurden Änderungen
von Schwerbehindertengesetz und -Ausgleichsabgabeverordnung gefordert, wonach
die Förderung von Assistenz festgeschrieben werden soll.
Weitere Informationen zu der Resolution gibt es bei: DVBS Frauenbergstr. 8 35037 Marburg Tel.: 06421/ 948880
Als "Sozialschnorrer", "Abzocker" und "Betrüger" wird der 50jährige Sozialhilfeempfänger
Bernd H. seit dem 11. Juli in mehreren überregionalen Zeitungen unter
anderem "Bild" und "Focus" betitelt.
Indem er sich als schwer Gebehinderter ausgab, habe er sich mehrere tausend
Mark vom Sozialamt Frankfurt am Main erschlichen. Dieses ist Anfang des Jahres
erstmals auf den vermeintlichen Schmarotzer aufmerksam geworden, da er seinen
Zigarettenkonsum und seine vielen Faxe an das Amt nach Meinung des Sachbearbeiters
unmöglich von seiner Unterstützung bezahlen konnte. Das Sozialamt schaltete
eine Detektei ein, worauf bis zu fünf Detektive Bernd H. und seine Frau nahezu
rund um die Uhr bewachten und ihn als Simulanten "entlarvten": Bernd H. könne
ohne Krücken laufen, obwohl er angibt, schwerbehindert zu sein. Prompt wurde
ihm die Sozialhilfe gestrichen.
Ein im Januar dieses Jahres angefertigtes amtsärztliches Gutachten, welches
ihm eine achtzigprozentige Schwerbehinderung bescheinigt und ausdrücklich bestätigt,
daß Herr H. keine Krücken benutzen kann, da sie bei ihm eine "beidseitige Schmerzsymptomatik"
hervorrufen, wurde dabei offenbar ignoriert. Da Bernd H. seine Miete nun nicht
mehr bezahlen kann, steht ihm eine Räumungsklage unmittelbar bevor. Zu dem Mittel
der jeglicher gesetzlicher Grundlage entbehrenden Überwachungen von Sozialhilfeempfängerlnnen
durch "externe Ermittler" werde laut zuständigen Sozialreferenten Ralf Kinkenborg
nur in "extremen Ausnahmefällen" gegriffen. Anders stellen dies allerdings die
privaten Ermittler selbst dar, die vom Sozialamt dazu angehalten werden, möglichst
genau die Lebensgewohnheiten der Überwachten zu erforschen, wozu die tägliche
Kontrolle des Briefkastens, Lauschen an der Wohnungstür, das Aufzeichnen von
Gesprächen und so weiter gehören. Betroffen seien vor allem Ausländer und Behinderte.
Ein Einzelfall sei die Überwachung nicht, so ein Mitarbeiter der Detektei, in
anderen Bundesländern sei sie "unter anderer politischer Führung an der Tagesordnung
und niemand rege sich auf".
(Quelle: Jungle World Nr. 30/98)
© Martin Seidler
Letzte Aktualisierung: 15.05.2003